Als ich von Gernot Römer die Einladung erhielt an
dieser Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der "Kristallnacht" teilzunehmen - Da war
meine erste Entscheidung - Nein, Auf keinen Fall.
Erstens, ich bin kein Redner, besonders in der deutschen Sprache und
zweitens, ich fragte mich, was kann ich den Leuten erzählen, das sie nicht schon hundert
Mal in Wort und Bild von anderen Holocaust Überlebenden gelesen und gehört haben?
Jedoch nach reiflicher Überlegung kam mir zum Bewustsein, dass
dieser Tag etwas ganz besonderes für mich bedeuten würde und ich entschloss mich hierher
- zu kommen und Ihnen ein paar bisher unbekannte Erlebnisse, zu erzählen.
In der Nacht vom 9-10 November 1938 erwachte ich um 5 Uhr morgens
vom Geräusch der Türklingel. Die Tür zu meinem Schlafzimmer öffnete sich und zwei
wildfremde Männer in Lodenmäntel standen mir gegenüber. "Bist du Heinz
Landmann?" fragte einer der zwei, als er meinen Namen von einem Zettel las. Ich
antwortete, "Ja". "Zieh dich an und komm mit uns!" Das war alles was
gesprochen wurde. Als wir unsere Wohnung in der Herrmann-Strasse #3 verliessen und die
Halderstrasse überquerten sah ich Schleuche und Feuerwehr vor der Synagoge. Der Geruch
von Rauch füllte die kalte Morgen Luft. Ich wusste was vorging - Die Synagoge brannte!
Auf dem Weg vom Polizeipräsidium zum Gefängnis Katzenstadel sah
ich vom Polizeiwagen verschiedene jüdische Geschäfte mit eingeschlagenen Fenstern.
(Daher der Name "Kristallnacht".) Ich verbrachte den Rest des Tages mit 3
anderen Augsburger Juden (Erich Teutsch, Alfred Stein und Simon Kupfer) in einer kleinen
Zelle. Gegen 4 Uhr Nachmittags wurden wir heraus geholt und ein Wächter führte uns zum
Erdgeschoss. Dort waren fast alle Augsburger jüdischen Männer versammelt
(einschliesslich meines Vaters) und zum Abtransport bereit. Nach einer 2 stündigen
Busfahrt erreichten wir unseren Bestimmungsort. Es war das gefürchtete KZ Dachau. Unseren
Empfgang dort kann ich nur mit einem Wort beschreiben - "Unmenchlisch".
Dieser Schreckenstag endete als ich endlich total erschöpft auf dem
Boden in Stube 3 Block 10, zwischen
Rabiner
Dr. Jacob (Anm.: dem Vater des heutigen Oberrabbiners der liberalen Münchner
Gemeinde 'Beth Shalom') und meinem Vater einschlief. Wäre mir in diesem Augenblick
ein Engel erschienen und hätte mir gesagt: "Heinz, in 60 Jahren wirst du in der neu
erbauten Synagoge an einer Gedenkfeier für diesen Tag teilnehmen", dann hätte ich
ihm erwiedert: "Mein lieber Engel - Du hast wohl etwas zu viel heiliges Wasser hinter
die Binde gegossen - da glaub ich noch eher, dass ein Mann auf dem Mond spazieren gehn
wird. Heute wissen wir, dass, was damals unglaublich und unmöglich erschien, ist
Wirklichkeit geworden.
Wie gross der unterschied von damals und heute ist, möchte ich mit
einer Geschichte schildern, die nur sehr wenigen von Ihnen bekannt ist, nämlich, der
erste Gottesdienst in dieser ausgebrannten Synagoge und die Folgen der Kristallnacht.
Als ich am 28. April 1945 mit den ersten amerikanischen Truppen in
Augsburg einfuhr und die ausgebrannte Synagoge in der fast völlig zertrümmerten Stadt
zum ersten Mal wiedersah, da wurde mir ein Zusammenhang bewusst. Das in der Kristallnacht
zerstörte Gotteshaus war der Anfang eines Wahnsinnes, nämlich Augsburg
"Judenrein" zu machen und die zerstreute Stadt war das Endresultat dieser Idee.
Ich war froh, dass wir nur ein paar Stunden in Augsburg verblieben und nach München
weiterfuhren. Das Ende des Krieges feierten wir in Salzburg und wenige Tage später las
ich in einer Armee Zeitung, das am nächsten Freitag der erste Sabbat Gottesdienst in der
ausgeräumten Synagoge von Augsburg stattfinden würde. Da musste ich dabei sein!
Jedoch leider stellte die Amerikanische Armee nicht jedem Gefreiten
einen Wagen mit Chauffeur zur Verfügung um circa 300 KM zum Sabbat Gottesdienst zu
fahren. Es bedurfte ein paar Notlügen und all meine Beziehungen um einen 3 tägigen
Urlaubsschein zu erhalten. Gesagt-getan! Am Freitag morgen befand ich mich auf der
Autobahn- Richtung Augsburg.
Als ich gegen Abend in der Halderstrasse ankam, da sah ich ein paar
Gruppen von amerikanischen Soldaten vor dem Tore stehen und auch eine kleine Gruppe
deutscher Civilisten. Ich erkannte sofort die meisten. Es waren ungefähr 10 Leute, die
einen jüdischen und einen christlichen Vater oder Mutter hatten- sogenannte Halb Juden
und deshalb verschont blieben. Unter Ihnen fand ich auch einen jüdischen Mann, der von
einer deutschen Christin für 3 Jahre versteckt wurde und die ihm somit das Leben rettete.
Ich will das erwähnen um zu zeigen, dass es auch einige wenige Deutsche gab, die etwas
für Ihre jüdischen Mitbürger taten und Ihnen in ihrer Not Hilfe leisteten. Sie können
sich vorstellen was für einen Empfang ich damals von meinen ehemaligen Freunden erhielt.
Als das Tor geöffnet wurde betrat ich zum erstenmal seit 1938 dieses Gotteshaus.
Die Amerikanische Armee hatte einige Reihen von Klappstühlen in der
leeren dunklen Halle aufgestellt. Zur Beleuchtung dienten 3 oder 4 Drähte mit
Glühbirnen. Es war ein unbeschreiblich trauriger Anblick. Wohin das Augeblickte - war
Russ, Schmutz und von Wasser and Feuer beschädigtes Innerhalb. Der Geruch von Rauch und
Mehltau füllte die Luft und Vögel flogen durch die eingeschlagenen Fenster zu ihren
Nesten in der Kuppe.
Trotz all der Vernichtung - wir hatten wieder einen Gottesdienst in
dieser Synagoge. Ein amerikanischer Chaplain las den englischen Teil der Gebete und einer
der jüdischen Soldaten sang die hebräischen Melodien. Der Chaplain erfuhr natürlich von
meiner Vergangenheit und wollte etwas besonderes für mich tun- so gab er mir die
"Ehre" beim Schlussgebet die heilige Lade zu öffnen. Auf ein Zeichen von ihm,
begann ich langsam die Altartreppen hinaufzusteigen. Wie in einem Traum erinnerte ich
mich, wie ich als kleiner Junge in der Loge sass und Herrn Komerzienrat Dann bewunderte,
als er im Frack und Zilinderhut diese Stufen heraufstieg, vor der mit einem goldbestickten
Samtvorhang bekleidenten Lade halt machte und dann das Tor mit einer Hand zurückschub. In
strahlender Beleuchtung standen dort ungefähr 10 Tora rollen mit silbernen und goldenen
Kronen und Brustplatten beschmückt. Es war immer ein atemberauschender Anblick den ich
nie vergessen werde. Doch, als ich 1945 die letzte Stufe erreichte, erwachte ich
plötzlich zu der ernüchtender Wirklichkeit. Ich stand vor einer schmutzigen,
eingerosteten Holztüre, die ich nur mienglischen Teil der Gebete und einer der jüdischen
Soldate
Inneres im Dunkeln stand eine kleine papier Tora, die von der Armee
zur Verfügung gestellt wurde. Mit Tränen in den Augen - trat ich zur Seite und der
Vorbeter begann das Schlussgebet. Als ich von der Kanzel herunterblickte, da sah ich zum
ersten Male die unheimlichen Folgen der Kristallnacht. Ein ausgebranntes Gotteshaus mit
der völlig zerstörten Innenseite- eine 1000 köpfige Gemeinde, die zu einer Handvoll
übrig gebliebenen Mitgliedern zusammengeschrumpft war - in einer fast 100% zertrümmerten
Stadt - in einem Land das gerade den schlimmsten Krieg verloren hatte und in dem Mangel an
allen Notwendigem bestand, mit anderen Worten - es war wahrscheinlich der tiefste Punkt in
der Geschichte dieser Synagoge.
So, wenn ich heute hier an demselben Platz stehe und überblicke die
neuerbaute herrliche Innenseite dieses Gotteshauses, das heute wieder eine über 1000
köpfige Gemeinde sein eigen zählen kann- in einer schönen, neuen Stadt - in einem
demokratischen, blühendem Land mit einer neuen Generation von Menschen, die den Mut and
Charakter aufbrachten diesen Schandtag in deheute wieder eine über 1000 köpfige Gemeinde
sein eigen zählen kann- in einer schönen, neuen Stadt - in einem demokratischen,
blühendem Land mit einer neuen Generation von Menschen, die den Mu
Leider können wir die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können
von Ihr lernen. Wenn wir aus dieser Zeit die Lehre ziehen- all unsere Mitmenschen, gleich
welcher Rasse, Religion oder Lebensweise sie angehören - mit Respekt und Würde zu
behandeln, dann hoffe ich, dass unsere Kinder und Kindeskinder das Wort
"Kristallnacht" nur von jener Zeit kennen, als "Macht und Tracht" in
Deutschland regierten und das Leben von Millionen unschuldiger Menschen kostete.
Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass nicht nur ich, sondern
auch andere Überlebende jener schrecklichen Jahre, wir wünschen uns schon lange eine
Gedenktafel mit den Namen aller ermordeten Augsburger und Augsburgerinen. In vielen
Städten gibt es solche Gedenktafeln, sogar sehr kleine Gemeinden erinnern so an ihre
ehemaligen jüdischen Bürger. Einige von uns Überlebenden haben schon darüber
gesprochen, selbst eine solche Namenstafel in Augsburg zu finanzieren. Es gibt sogar schon
einen Entwurf. Aber eine solche Gedenktafel aufzustellen, das darf eigentlich nicht die
Sache der Überlebenden sein. Es wäre uns ein Genugtuung, wenn sich das die Stadt
Augsburg zur Aufgabe machen würde.