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Vorwort

"Ich bitte Sie alle, das, was ich Ihnen gesagt habe, so zu nehmen, wie ich es gesagt habe - es ist die volle Wahrheit. Und alles zu tun, dass in diesem Land und in keinem anderen Land so etwas ohne Widerstand wieder geschehen kann."

Mit diesen Worten beendete Alfred Jachmann, der Ende Juli 2002 an den Spätfolgen der KZ-Intemierung starb, seinen Vortrag im November 2000 in Freiburg. Diese Sätze spiegeln einige der Beweggründe wider, warum sich Überlebende der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik den schmerzhaften Erinnerungen und den Anstrengungen von öffentlichen Auftritten aussetzen: Sie wollen Zeugnis ablegen, um das Erlittene und all jene, die es nicht überlebten, vor dem Vergessen zu bewahren, um durch Augenzeugenbericht zu verhindern, dass jemand Auschwitz und die Gaskammern leugnen kann. Zeugnis ablegen, um die jüngeren Generationen dazu aufzurufen, eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern und jeglicher Form von Diskriminierung entgegenzutreten. Zeugnis ablegen bei einigen von ihnen aber sicher auch, um sich durch das Niederschreiben oder Erzählen der Erinnerungen aus der Sprachlosigkeit zu befreien.

Diese Motive sind bei den Vortragenden, deren Berichte in diesem Buch und auf diesen CDs vertreten sind, zu finden. So betonte Herbert Ricky Adler mehrfach, dass er sich verpflichtet fühlt, über seine Erinnerungen zu sprechen, auch wenn ihn diese sehr schmerzen: "Denn ich werde nie in meinem Leben vergessen können, dass sie meine Mutter und drei Geschwister lebendig vergast haben, im August 1944. Und ich habe mir geschworen: Solang der liebe Gott mir die Kraft gibt, die Energie gibt, werde ich alles versuchen, unseren Leuten zu helfen". Gleichzeitig rief er eindringlich zur Toleranz und zum Engagement gegen Diskriminierung auf.

Im gleichen Sinne äußerte sich Jutta Bergt in einem Gespräch: "... Ich empfinde das als Verpflichtung, denn wir sind Auslaufmodelle. Wir sind mit die Jüngsten und da gibt 's nicht mehr viele und man muss eben wirklich noch Zeugnis ablegen. Denn, wenn wir dann weg sind, dann ist alles nur noch Geschichte". Trude Simonsohn wie auch Felix Rottberger berichteten, dass die Vortragsarbeit ihnen bei der Verarbeitung ihrer Vergangenheit half. Felix Rottberger erklärte: "Aber ich für meine Person konnte beruhigt erkennen, dass ich diese Vergangenheitsbewältigung durch meine Vorträge habe". Und Trude Simonsohn sprach auch für diejenigen, die das Lager nicht überlebten: "Es ist die Pflicht eines Überlebenden, wenn er es kann, für alle darüber zu reden, die es nicht mehr können".

Der Bericht von Überlebenden konfrontiert uns mit den realen Menschen, die die Schrecknisse der Schoah erlebten - in der Schule zu hören, dass sechs Millionen Juden von den Nazis ermordet wurden, ist zu abstrakt und unglaublich, als dass es uns das Geschehene vorstellbar machen könnte. Die Erzählung eines Menschen, der uns von alltäglichen Grausamkeiten berichtet oder der uns vom Tod seiner Eltern, seiner Geschwister, seiner Leidensgenossen erzählt, ermöglicht uns einen anderen Zugang zur nationalsozialistischen Vergangenheit und ihrem Fortwirken, als dies Fakten und Dokumente können. Dies macht es uns nicht so leicht, uns bei der Beschäftigung mit der Shoah auf eine rationale Ebene zurückzuziehen.

Der sehr engagierte Vortrag von Alfred Jachmann, der damit begann, wie sich Diskriminierung und Verfolgung nach und nach in der bis dahin heilen Welt der Kleinstadt, in der er aufwuchs, ausbreiteten, macht uns die Brutalität der nationalsozialistischen Gesellschaft und ihrer Gesetze begreifbarer als eine historische Quellensammlung dies könnte.

Herbert Ricky Adler hingegen klang während seines Vertrages über die Jahre in Auschwitz sehr gefasst, beinahe unbeteiligt, und sagte doch: "Sie sehen das nicht, weil ich ruhig bleibe, aber innerlich verbrenne ich. Weil die ganze Erinnerung zurückkommt. Alles, was gewesen ist. sehe ich genau vor meinen Augen".

In ihren Vorträgen und auch beim Hören der vorliegenden CDs darf man sich daher von ihrem ruhigen Sprechen nicht darüber hinwegtäuschen lassen, wie schmerzhaft für die Überlebenden das Sprechen über das Erlittene ist. Und man sollte sich als Hörer(in) bewusst machen, dass der Anspruch, einen emotionalen Bericht zu erleben, bedeuten würde, dass sie in jedem Vortrag, vor jedem Publikum aufs Neue ihre tiefsten Verletzungen ausbreiten müssten.

Schwierig ist für die Überlebenden sicher auch, dass sie das Ungeheuerliche in die "normale" Sprache übersetzen müssen, die dem Geschehenen nicht gerecht werden kann. In manchen Momenten finden sie Formulierungen und Bilder, die klarmachen, wie fern jeder für sie erkennbaren Logik die Taten der Nazis waren. An diesen Stellen reden die Überlebenden von ihrer eigenen Entmenschlichung oder sie räumen ein, dass sie die Taten der Nationalsozialisten nicht adäquat beschreiben können - "... das kann man sich gar nicht vorstellen!", rief Alfred Jachmann wiederholt.

Der individuell unterschiedliche Umgang der Überlebenden mit ihren Erinnerungen gemahnt uns daran, dass sie nicht nur "Warner" sind, die uns eine anti-faschistische Geschichtsstunde liefern, sondern vor allem Menschen, denen hier in Deutschland Entsetzliches angetan wurde und denen oftmals immer noch Anerkennung, Entschädigung und Empathie verweigert wird.

Dieses Buch und die beiliegenden CDs dokumentieren fünf Veranstaltungen von Radio Dreyeckland, die im Rahmen der Reihe "Dokumente zur Vergangenheitspolitik" zwischen November 1999 und Mai 2001 in Freiburg stattfanden. Überlebende der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik berichteten in diesen Veranstaltungen aus ihren Erfahrungen in der Zeit der Verfolgung sowie von ihrem Leben davor und danach:
Jutta Bergt machte den Auftakt am 9. November 1999 mit einer Lesung aus ihrem Buch, das ihre Erfahrungen im Nachkriegsdeutschland wiedergibt. Sie entrollt darin ein stellenweise absurd scheinendes, detailgenaues Panorama einer Gesellschaft, die den Überlebenden das Leben schwer machte und sich keiner eigenen Schuld bewusst werden wollte.
Im Jahr 2000 sprach Herbert R. Adler als einziger Sinto unserer Reihe von der Verfolgung, die bis Auschwitz führte, und man bekommt heute noch einen Eindruck davon, wie er als Jugendlicher fassungslos der Willkür der Nazis gegenüberstand.
Alfred Jachmann war ebenfalls Überlebender von Auschwitz, in seinem Vortrag klingt immer wieder sein kämpferisches Bemühen an, noch mehr Argumente herauszuarbeiten, um das Publikum zum Nie wieder aufzurufen.
Im April 2001 berichtete Felix Rottberger von seiner Kindheit im Versteck in einem dänischen Kinderheim und den Erfahrungen nach 1945, die das Gegenteil von befreiter Atmosphäre vermitteln.
Trude Simonsohn folgte im Mai desselben Jahres mit einem Bericht über das, was ihr in den KZs Theresienstadt und Auschwitz widerfuhr. Sie hielt einen detailgenauen und zugleich sehr reflektierten Vortrag. Den Anspruch, die Vielfalt der Schicksale der von den Nazis Verfolgten darzustellen, kann diese kleine Publikation nicht erfüllen. Haben doch schon die fünf Vortragenden, obwohl sie ungefähr gleichaltrig sind, ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Radio Dreyeckland setzt die Vertrags- und Sendereihe fort, um auch Überlebende weiterer Opfergruppen zu Wort kommen zu lassen.

Die Texte im Buch sind leicht gekürzte, ansonsten aber weitestgehend unveränderte Abschriften der in freier Rede gehaltenen Berichte. Die schriftliche, nicht geglättete Fassung wirkt manchmal etwas ungewohnt; aber nur so entgeht man der Gefahr, jene Stellen zu entschärfen, in denen die Grenzen des Sagbaren deutlich werden. In erster Linie geben die Vorträge die Erinnerung der Überlebenden wieder; die Überlebenden sahen aber die verschriftlichten Berichte nachträglich durch und korrigierten Unrichtigkeiten. Wir haben die Vorträge als Zeugnisse aufgenommen, die die subjektiven Erinnerungen festhalten sollen - auf eine wissenschaftliche Bearbeitung haben wir verzichtet. Auf den dem Buch beigelegten CDs sind zentrale Passagen der Vorträge zu hören. Sie ermöglichen es, die Betonungen und den Redestil zu verfolgen -, um vielleicht anschließend den Text zu nehmen und mit der Stimme im Ohr weiterzulesen.

Eine Besonderheit bildet der Vortrag von Jutta Bergt, da sie ihre Geschichte in dem Buch "Die ersten Jahre nach dem Holocaust" niedergeschrieben hat und im Vortrag Ausschnitte daraus liest. Daher veröffentlichen wir hier nur eine Leseprobe und ergänzen diese durch weitere Dokumente; die Übereinstimmung zwischen dem abgedruckten Text und der CD ist bei ihr geringer als bei den anderen Vortragenden. Jutta Bergt gab uns Briefe ihrer Eltern, die als Durchschlag bei der Kinderfrau Ammi erhalten blieben. Diese Briefe haben uns sehr berührt. Wir drucken einen dieser Briefe ab, der einen Eindruck davon gibt, wie Auswanderungshoffnung und erzwungene Familientrennung sich über die einfühlende Sorge für die Kinder legten. Außerdem fügen wir Ausschnitte aus einem öffentlichen Gespräch mit Jutta Bergt an, die über die Umstände des Schreibens und der Veröffentlichung ihres Buches Auskunft geben.

Zusätzlich zu den Berichten der Überlebenden enthält das Buch zwei Artikel, die sich mit dem Umgang mit Erinnerungen von Zeitzeug(inn)en in der Bundesrepublik Deutschland befassen. Diese Texte - "Zeugnis ablegen" von Günther Jacob und "Die Vorträge Überlebender" von Thomas Käpernick und Kerstin Amthor - sind ausgearbeitete und erweiterte Fassungen von Referaten, die im Rahmen des Seminars "Die Erinnerung von Überlebenden" (als Resümee unserer Veranstaltungsreihe) im Juni 2001 gehalten wurden. In diesen Essays finden sich Überlegungen, wie Empathie mit Überlebenden vorstellbar ist, und auch einige der in diesem Vorwort angesprochenen Aspekte zur Bedeutung der Erinnerungen von Überlebenden werden näher ausgeführt.

In den 90er-Jahren hatte nicht nur das Erinnern Hochkonjunktur, sondern auch der Diskurs darüber.

Die Tatsache, dass das lebendige Gedächtnis der Überlebenden in absehbarer Zeit einem mediengestützten Gedächtnis weichen muss, das sich aus materiellen Trägern wie Denkmälern, Gedenkstätten, Museen, Archiven und Büchern speist, hat die Notwendigkeit der Erinnerung zu einem zentralen Thema werden lassen. In Deutschland hat der in den achtziger Jahren populär gewordene Versuch der Identifikation mit den Erfahrungen Überlebender über das Medium der Autobiographie oder des Romans einen verheerenden Weg genommen. Die deutsche Form der Vergangenheitsbewältigung lief darauf hinaus, gedeckt durch Schweigen in der BRD, beziehungsweise einen offiziellen Antifaschismus in der DDR, in den Familien den Täter(inne)n zuzuhören und nicht nachzufragen, wer denn die Verbrechen verübt hat. Diese Tradition wird nun durch die Methode der oral history öffentlich anerkannt, so dass inzwischen jeder ehemalige Landser und jede Frau, die beim Bund deutscher Mädel aktiv war, als Zeitzeugen gelten können.

Gegen diese Tendenzen des Negierens von Unterschieden - zwischen Täter- und Opferseite, zwischen Gefangenenlagern in Bosnien und Auschwitz - wollen wir uns mit dieser Publikation wenden. Und wir wollen den persönlichen Bericht von fünf beeindruckenden Menschen, ihre Worte und Stimmen, nicht nur aufbewahren, sondern öffentlich machen. In der Hoffnung, ihnen hierdurch ein kleines Stück der Last des Erinnerns abnehmen zu können.

Ulrike Huber, Thomas Käpemick, Kerstin Amthor
im September 2002

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Zeitzeugen:
Die Erinnerung der Überlebenden
Wenn wir nicht mehr da sind...

Hilfe:
Esra

Die Folgen für die Überlebenden, die zweite und die dritte Generation...

 

Mit eigenen Augen:
Visionen aus den Inferno
Vielleicht habe ich versucht, mich beim Malen zu befreien...

Ghetto Warschau:
Meines Bruders Hüter

Erzählt in der Sprache der Bilder. Für Jugendliche...

Brief von Leo, 1942:
Wenn du erwachsen wirst...
Meine geliebte Hanicka, Jirinka, Gretinka und Jirka ! Heute um 6 Uhr abends habe ich Deinen Brief vom 9. dieses Monats erhalten und um 1/2 7 wurde ich vorgeführt und es wurde mir eröffnet, daß ich um 1/2 7 morgen früh hingerichtet werde...

Hans Krasas Brundibar:
Die Kinderoper aus Theresienstadt
The Children'S Opera from Theresienstadt - jiddisch...

 

Ein Gerechter aus den Völkern der Welt:
Kennen Sie Willi Bleicher?
Nein? Nie gehört? Das wundert mich nicht. Wie sollten Sie auch? Die großen historischen Vorabendserien der letzten Jahre beschäftigten sich ja auch vornehmlich mit den Tätern des Nazi-Regimes...

 

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